Das Haus der Arbeitsfähigkeit

Die Arbeitsfähigkeit definiert Prof. Dr. Juhani Ilmarinen in seinem „Haus der Arbeitsfähigkeit“. Sie besteht aus den miteinander verknüpften Bereichen Gesundheit, Kompetenz, Werte und Arbeit.


Der Kernsatz lautet: Die Arbeit muss sich den Menschen anpassen – nicht umgekehrt.
In Finnland wird die Arbeitsfähigkeit älterer Menschen konsequent nach diesem Grundsatz verbessert.
Nur wenn die Anforderungen der Arbeit und die Ressourcen der Arbeitenden zusammen passen, kann die Arbeit gut ausgeführt werden. Neu an dem Konzept ist die Betonung der Wechselseitigkeit der Prozesse: Es liegt weder nur an den Arbeitenden noch nur an ihrer Arbeit oder Arbeitsumgebung, ob die Arbeit gut ausgeführt werden kann oder nicht. Es geht um die Passung zwischen Arbeitenden und Arbeit. Eine gute Arbeitsfähigkeit bedeutet, dass die Menschen mit den ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen die gewünschte Arbeit gut leisten können.

Das Haus der Arbeitsfähigkeit kann dem betrieblichen Gesundheitsmanagement zugeordnet werden. Erfahren Sie mehr über die praktische Umsetzung in Ihrem Betrieb in unseren Seminaren zum Arbeitsschutz!

Keine Arbeitsfähigkeit ohne Gesundheit

Die physische und psychische Gesundheit. Veränderungen in der Leistungsfähigkeit und der Gesundheit wirken unmittelbar auf die Arbeitsfähigkeit. Einschränkungen in der Gesundheit und Leistungsfähigkeit bedrohen immer auch die Arbeitsfähigkeit – umgekehrt bieten die Förderung von Gesundheit und Leistungsfähigkeit die Möglichkeit der Förderung der Arbeitsfähigkeit. Eine gute Arbeitsfähigkeit braucht ein stabiles Fundament – das bedeutet auch, dass es eine gute Arbeitsfähigkeit ohne Gesundheit nicht geben kann.

Haus der Arbeitsfähigkeit

Qualifikation und Wissen

Das zweite Stockwerk Qualifikation beschreibt das Wissen und Können eines Menschen. Hierunter fallen sowohl fachliche Qualifikationen als auch Schlüsselkompetenzen. Eine andere mögliche Einteilung ist die in Fertigkeiten und Fähigkeiten. Unter Fertigkeiten versteht man die Anteile des eigenen Könnens, die schon ausgebildet sind, z. B. „Ich kann Fahrrad fahren.“ Als Fähigkeiten werden die Anteile beschrieben, die noch nicht erlernt, aber prinzipiell erlernbar sind, z. B. „Ich kann eine neue Sprache lernen“.
Mit den angeeigneten vielfältigen Qualifikationen begegnet man den beruflichen Herausforderungen – im fortlaufend sich verändernden Arbeitsalltag wird das lebenslange Weiterlernen dabei immer wichtiger. Einstellung und Motivation Im dritten Stockwerk sind die Werte untergebracht.

Einstellungen und Motivationen

Hier wird unterschieden zwischen Einstellungen und Motivationen. Einstellungen prägen unser gesamtes Verhalten und beeinflussen auch, welche Dinge uns motivieren. Für eine gute Arbeitsfähigkeit ist es wichtig, dass die eigenen Einstellungen und Motivationen im Einklang mit der eigenen Arbeit sind. Eine Arbeit, die man vor sich selbst nicht gut vertreten kann, oder ein Chef, der mit Gehaltserhöhungen zu locken versucht, obwohl man selbst lieber mehr Freizeit hätte – langfristig leidet die eigene Arbeitsfähigkeit darunter.

Arbeitsplatz und Arbeitsanforderungen

Das vierte Stockwerk des Hauses ist das größte und schwerste – es ist die Arbeit selbst. In den meisten Zeichnungen wird es aus diesem Grund auch doppelt so groß gemalt wie die anderen. Und weil es das oberste Stockwerk ist, drückt es mit seinem Gewicht auf die unteren – alles, was hier passiert, hat deutliche Auswirkungen auf alle vorher genannten Stockwerke. Im Stockwerk „Arbeit“ finden sich all die unterschiedlichen Faktoren, die den eigenen Arbeitsplatz zu dem machen, was er ist: Die Arbeitsaufgabe und die daraus entstehenden Anforderungen, das soziale Umfeld mit KollegInnen und Vorgesetzten, die Struktur der Organisation, in der man arbeitet, und die Arbeitsumgebung in Form von z. B. Räumen,  Lichtverhältnissen, Mobiliar.

Dieses Stockwerk ist in seinem Aufbau sehr komplex, weil es sich aus vielen unterschied-lichen Aspekten zusammen setzt, die eng miteinander verwoben sind.
Eine große Verantwortung in diesem Stockwerk tragen die Vorgesetzten – sie sind in
erster Linie für eine gute Arbeitsgestaltung verantwortlich und haben in ihrer Position auch die Möglichkeit, diese durchzusetzen.

Gleichzeitig kann eine gute Arbeitsfähigkeit nur dann entstehen, wenn Vorgesetzte und Mitarbeiter konstruktiv zusammenarbeiten. Keiner von ihnen kann allein eine gute Arbeitsfähigkeit bewirken – erst wenn beide ihren Anteil dazu leisten, wird sie möglich. Neben den Vorgesetzten wirken auch Kollegen auf die eigene Arbeitsfähigkeit – im besten Falle unterstützend und fördernd.

Faktoren außerhalb der Arbeit

Das Haus der Arbeitsfähigkeit steht nicht allein – auch die Umgebung des Hauses beeinflusst die Arbeitsfähigkeit. Arbeitsschutz und Betriebsärztlicher Dienst wirken hierbei als gesetzlich verankerte Schutzmechanismen. Da Arbeit und Leben keine Gegensätze sind, wirkt auch der Teil des Lebens, der außerhalb der Arbeit stattfindet, auf die eigene Arbeitsfähigkeit. Familie, Freunde und Bekannte spielen eine wichtige Rolle im eigenen Kräftehaushalt.

Wie oben schon gesagt, entsteht Arbeitsfähigkeit vor allem durch eine möglichst gute Passung zwischen den Anforderungen der Arbeit und den Ressourcen der Menschen. Die Suche nach einem möglichst guten Gleichgewicht zwischen Anforderungen und Ressourcen zieht sich durch ein ganzes Menschenleben, und wird in den verschiedenen Lebensphasen unterschiedlich beantwortet. Dabei verändern sich sowohl die Ressourcen der Menschen als auch die Anforderungen der Arbeit. Das Streben nach einer guten Arbeitsfähigkeit dauert also im Idealfall ein Leben lang an – indem es sich den verändernden Gegebenheiten immer wieder neu anpasst.

Es kann nicht genug betont werden, dass die Anpassungen hin zu einer höheren  Arbeitsfähigkeit ganz entscheidend davon abhängen, dass die innerbetriebliche Führungsebene bereit ist, Strukturen des Arbeitsprozesses zu verändern. Wer die Bringschuld in erster Linie bei der Belegschaft vermutet, wird scheitern: nicht die Menschen müssen der Abeit angepasst werden, sondern die Arbeit muss sich den Menschen anpassen. Gesundheitsförderung und Prävention, ergonomische Verbesserungen am Arbeitsplatz sowie ein auf den Erhalt der Arbeitsfähigkeit ausgerichtetes Führungsverhalten sind die entscheidenden Faktoren hierfür.

Umsetzung – Förderung der Arbeitsfähigkeit

Wie lässt sich nun die Arbeitsfähigkeit der Arbeitenden fördern? Das Haus der Arbeitsfähigkeit zeigt die Vielfalt der verschiedenen Ansatzpunkte auf. Gleichzeitig kann die Arbeitsfähigkeit nur dann wachsen, wenn die verschiedenen Stockwerke im Auge behalten werden. Es geht also um eine Integration der verschiedenen Handlungsfelder. Wer sich nur auf die Zusammenarbeit unter Kollegen, nur auf eine möglichst gesunde Ernährung, nur auf die Förderung von Bewegung konzentriert, kann die Arbeitsfähigkeit nicht langfristig und bleibend verbessern. Dafür braucht es vielfältige, aber aufeinander abgestimmte Maßnahmen.

Ganz entscheidend ist es natürlich, nicht nur die gesundheitspolitischen Akteure, sondern insbesondere die unternehmerische Führung davon zu überzeugen, dass sich die Investition in die Arbeitsfähigkeit der Mitarbeiter langfristig für das Unternehmen rentiert. Dabei ist es sinnvoll, ökonomisch zu argumentieren: Eine schlechte Arbeitsfähigkeit kostet das Unternehmen nachweislich ca. 3.500 € pro Jahr und Mitarbeiter, nur an Krankenstandskosten.

Gelingt es, bei der Arbeitsfähigkeit der Beschäftigten Verbesserungen zu erzielen,
so wird diese Investition um das drei- bis zwanzigfachige wieder hereingebracht. Dieser Nutzen für das Unternehmen setzt sich aus der Reduktion von Abwesenheit und Frührenten sowie die Erhöhung der Produktivität zu je 50 % zusammen. Das hat die finnischen Unternehmer überzeugt, an unserem Projekt mitzuwirken.

Age-Management fasst als Begriff diese möglichen Maßnahmen unter einem Dach zusammen. Das grundlegende Konzept für die Förderung der Arbeitsfähigkeit ist für alle Altersgruppen gleich. Die notwendigen Anpassungen und Einzelmaßnahmen sind jedoch altersabhängig. Age-Management berücksichtigt diese verschiedenen alters und alternsrelevanten Faktoren bei der Arbeitsgestaltung.

Messung der Arbeitsfähigkeit – Arbeitsbewältigungsindex

Mit dem Arbeitsbewältigungsindex wurde ein Instrument entworfen, mit dem sich die
Arbeitsfähigkeit messen lässt. Es wurde im FIOH für die o. g. Längsschnittstudie
über elf Jahre entwickelt und hat sich in dieser und anderen Untersuchungen als
Erhebungsmethode für die Arbeitsfähigkeit bewährt.
Die beiden unterschiedlichen Begriffe „Arbeitsfähigkeit“ und „Arbeitsbewältigung“
haben ihre Ursache in unterschiedlichen Übersetzungen im deutschsprachigen
Raum – in Finnland wird für beides dasselbe Wort verwandt.

Erwerbsfähigkeit

Arbeitsfähigkeit ist zwar eine notwendige Grundlage für Beschäftigung, führt aber nicht automatisch zu einer Anstellung. Zwischen Arbeitsfähigkeit und Erwerbsarbeit liegt die Erwerbsfähigkeit. Mit diesem neuen Begriff werden Maßnahmen beschrieben, die notwendig sind, um die Beschäftigungsrate zu verbessern.
Dieser Begriff umfasst Beschäftigung, Ausbildung und Pensionierungspolitik, umfangreiche Sozial- und Gesundheitsdienstleistungen sowie beispielsweise die allgemeine Prävention von Altersdiskriminierung.
Das Konzept der Erwerbsfähigkeit ist noch nicht ausgereift – es lässt sich derzeit hauptsächlich anhand wichtiger Eigenschaften und Infrastrukturen beschreiben, die auf gesellschaftlicher Ebene für eine bessere Beschäftigung aller Altersgruppen erforderlich sind.

Fazit

Das Beispiel Finnland zeigt, dass nationale Gesundheitsziele – wie die längere Erhaltung
der Arbeitsfähigkeit älterer Beschäftigter – mit überzeugenden Konzepten auch nachhaltig erreicht werden können. Der enge Schulterschluss verschiedener Ministerien, der Sozialpartner und weiterer politischer und gesellschaftlicher Akteure wie dem FIOH erlaubte umfassende, aufeinander abgestimmte Maßnahmen. Vielfältige Interventionen mit den Schwerpunkten: Forschung, Netzwerkbildung, Informationskampagnen und Rentenreform konnten zusammen umgesetzt werden. Die Ergebnisse überzeugen: Der Anstieg der Erwerbsquote Älterer stieg auf 56 % und das effektive Rentenalter konnte durchschnittlich um 1,2 Jahre auf 60 Jahre angehoben werden.
Die zuletzt genannten freundlichen Worte stammen im Übrigen nicht aus der Feder der Autoren dieses Beitrags. Sondern aus der Begründung der Jury für die Verleihung des diesjährigen Carl-Bertelsmann Preises an die Verantwortlichen des Reform-programms „Älter werdende Arbeitnehmer“.